Am Fuße des Glastonbury Tor erwacht seit den 1990er-Jahren ein alter Zauber zu neuem Leben. Zu Sonnenwende, Beltane oder beim „Goddess Fest“ versammeln sich Menschen noch vor Morgengrauen, um singend und tanzend den Hügel zu erklimmen. Viele sehen hier das sagenumwobene Avalon – jenen Ort zwischen den Welten, wo Göttinnen verehrt und die Kräfte der Natur spürbar sind. Auch die Landschaft selbst wird als „Körper der Göttin“ gedeutet, mit dem Tor als ihrer linken Brust.
Zwei Quellen am Fuß des Hügels verstärken diese Deutung: Chalice Well, die rote Quelle, deren eisenhaltiges Wasser blutrot schimmert und mit dem Heiligen Gral verknüpft wird, und die White Spring, deren kalkreiches Wasser hell fließt. Rot und Weiß – Blut und Milch, Leben und Tod, Weibliches und Männliches – gelten hier als Symbole des Gleichgewichts. Für viele Pilger öffnen diese Orte ein Tor zu einer tieferen Wirklichkeit.
Am 21. August wurde Glastonbury in einem Ritual mit dem Untersberg, dem sogenannten Herzchakra Europas, verbunden. Zwei Kraftorte, so die Vorstellung, die wie zwei Herzen im gleichen Rhythmus schlagen. Wer daran glaubt, sieht darin eine Stärkung des „Erdchakren-Netzes“ und eine Erinnerung an die Verbundenheit von Mensch und Natur.
Doch genau hier beginnt die kritische Betrachtung: Solche Deutungen beruhen auf Überlieferungen, esoterischen Theorien und symbolischen Zuschreibungen – nicht auf historisch belegbaren Fakten. Die Verbindung von Ley-Linien, Erdchakren und mythischen Orten ist eine moderne spirituelle Konstruktion, die ihre Wurzeln in der Sehnsucht nach Sinn, Ganzheit und Rückbindung an die Natur hat. Sie sagt daher weniger über die „wahre“ Vergangenheit dieser Orte aus, sondern vielmehr über die Bedürfnisse und Vorstellungen der Menschen heute. Vergangene Kulturen haben hierzu Ihre Spuren hinterlassen - aus diesem Grund kann man betonen dass auch die Erde von Meridianlinien und Punkten durchzogen ist.
Glastonbury, Untersberg und ihre Mythen zeigen also zweierlei: Einerseits bieten sie vielen Menschen einen Raum für spirituelle Erfahrung, Heilung und Gemeinschaft. Andererseits sind sie Projektionsflächen, die befragt werden müssen – damit der Zauber nicht zur Ideologie wird, sondern eine Einladung bleibt: sich der Erde und ihren Kräften bewusst zu begegnen.
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